Volksstaat Hessen: Details
Von Dr. Katrin Wülfing
Von der Monarchie zur Republik
Andauernde Entbehrungen, Hunger und militärische Niederlagen führten in Verbindung mit einer allgemeinen Kriegsverdrossenheit der Bevölkerung im Herbst 1918 vermehrt zu Unruhen und Streiks im gesamten deutschen Kaiserreich. Demokratische und sozialistische Bestrebungen gewannen breite Unterstützung, während sich der monarchische Obrigkeitsstaat auflöste. Der Thronverzicht Kaiser Wilhelms II. und die Ausrufung der Republik am 9. November 1918 wurden von revolutionären Machtkämpfen begleitet, die die Anhänger einer parlamentarischen Demokratie im Frühjahr 1919 für sich entscheiden konnten.1
Eine Revolte eines Teiles der in Darmstadt stationierten Truppen erfasste am 8. November 1918 das Großherzogtum Hessen. Großherzog Ernst Ludwig, unwillig selbst abzudanken, wurde am folgenden Tag vom Hessischen Arbeiter-, Soldaten- und Bauernrat abgesetzt, es folgte die Ausrufung der „freien sozialistischen Republik Hessen“.2 An Stelle des Großherzogtums Hessen trat nun mit dem Volksstaat Hessen eine republikanische Staats- und parlamentarische Regierungsform.
Der neue Staat bestand aus zwei größeren, voneinander getrennten Gebieten in Mittel- und Südhessen, sowie einigen kleineren Enklaven. Ein erheblicher Teil des linksrheinischen Staatsgebiets (v. a. Rheinhessen) wurden gemäß den Bestimmungen des Versailler Vertrages von 1919 durch französische Truppen besetzt. Erst 1930 wurden die Besatzungstruppen abgezogen.3
Im Volksstaat Hessen übernahm unter Führung des Sozialdemokraten Carl Ulrich eine republikanische Revolutionsregierung die Staatsgeschäfte. Am 9. Dezember konstituierte sich aus dem Arbeiter-, Bauern- und Soldatenrat der Hessische Landesvolksrat, dessen Ziel die Wahl einer demokratischen verfassungsgebenden Volkskammer war.4
Die verfassungsgebende Volkskammer bestand aus 70 Mitgliedern, die nach dem Verhältniswahlrecht bestimmt wurden. Alle mindestens zwanzig Jahre alten Männer und Frauen durften über ihre Volksvertretung entscheiden.5 Letztere bestätigte am 20. Februar 1919 die provisorische Revolutionsregierung, die aus Mitgliedern der SPD, der liberalen Fortschritts-Demokraten und des katholischen Zentrums zusammengesetzt war, als legitime Regierung des Volksstaats Hessen.6 Zugleich erließ die Volkskammer eine Verfassung, die durch liberal-demokratische Elemente gekennzeichnet war: Der Volksstaat Hessen bekannte sich darin zum Prinzip der Volkssouveränität, führte das allgemeine, gleiche Wahlrecht – auch für Frauen – ein, gewährte Möglichkeiten der Volksabstimmung und der Volksbegehren und schuf eine moderne Volksvertretung.7
Der Landtag als Repräsentant des Volkes
Der Landtag des Volksstaats Hessen konstituierte sich am 16. März 1920 als Ein-Kammer-Parlament mit umfangreichen Kompetenzen, die den Vorstellungen an ein modernes demokratisches Parlament voll entsprechen. Ihm oblagen nicht nur das Budgetrecht, das Recht der Mitwirkung an der Gesetzgebung und die Wahl des Ministerpräsidenten (im Volksstaat Hessen „Staatspräsident“ genannt), sondern auch umfangreiche Kontrollrechte über die Exekutive.8 Hierzu zählten etwa die Ministeranklage und die Einrichtung von Untersuchungsausschüssen.9 Die Abgeordneten hatten zudem das Recht, Anfragen und Eingaben vorzubringen.10
Mit der Arbeit der Abgeordneten in Ausschüssen,11 öffentlich abgehaltenen Landtagsversammlungen, der Veröffentlichung der Beratungen in Form von Protokollen12 und einem wachsenden Verwaltungs- und Archivsystem13 wies der Parlamentarismus im Volksstaat Hessen wesentliche Elemente einer modernen Volksvertretung auf, die nicht mehr nur einzelne Bevölkerungsgruppen repräsentierte, sondern die gesamte Bürgerschaft. Dies sollte auch durch das umfangreiche Wahlrecht garantiert werden: Die 70 Mitglieder des Landtags wurden zunächst auf drei Jahre, nach Verfassungsänderungen 1930 für vier Jahre, gewählt.14 Das aktive Wahlrecht besaßen alle im Besitz der bürgerlichen Ehrenrechte befindlichen Bürger und Bürgerinnen des Volksstaats, das passive Wahlrecht sah zusätzlich ein Mindestalter von 25 Jahren vor.15 Für Wahlen und Abstimmungen galt, dass diese allgemein, geheim, gleich und unmittelbar erfolgen mussten.16 Auf Grund der Wahlrechtsbestimmungen waren im Volksstaat Hessen ab Ende 1918 immerhin rund 60 Prozent der Bevölkerung stimmberechtigt.17
Bewusst hoch angesetzt waren die Hürden für eine Auflösung des Landtags; nur durch Zweidrittelmehrheit konnte eine solche erfolgen.18
Regierungen und Schwerpunktthemen
Der Rückhalt der Wähler, den die SPD seit der Novemberrevolution im Volksstaat Hessen für sich verzeichnen konnte, spiegelte sich auch in Wahlergebnissen zu verschiedenen Landtagen wider. Bereits bei der Wahl zur verfassungsgebenden Versammlung im Januar 1919 erhielt die SPD 44,5% aller Stimmen und bildete mit den Linksliberalen (DDP: 18,9%) und dem katholischen Zentrum (17,6%) eine Koalitionsregierung. Unter dem von der SPD gestellten Staatspräsidenten Carl Ulrich setzen sich diese Mehrheitsverhältnisse fort; bei den ersten drei Landtagswahlen bildeten sich klare Mehrheiten für die drei Parteien der „Weimarer Koalition“. Bis 1929 konnten sie die meisten Parlamentssitze für sich gewinnen.19
Im Laufe der Jahre veränderten sich die Themen und Schwerpunkte, mit denen sich die Abgeordneten der Landtage befassten:
Die erste Landtagsperiode, die sich von 1919 bis 1921 erstreckte, stand ganz im Zeichen der Befassung mit den Folgen des Ersten Weltkrieges und der Kapitulation. Hierzu gehörte auch die Befassung mit der grundlegenden Gestaltung des neuen Staats sowie der Frage, welche monarchischen Einrichtungen und Regelungen in der Republik weiterhin – oder in veränderter Form – Bestand haben sollten. Auch die Versorgung der Bevölkerung, wirtschaftliche Weichenstellungen und Aspekte der Verwaltungsorganisation beschäftigten die Abgeordneten.20
Die Arbeit des zweiten Landtags (1921–1924) war von verschiedenen politischen und wirtschaftlichen Krisen geprägt. Hierzu zählte auch die Bedrohung des demokratischen Staats durch rechte Oppositionsparteien, die in Hessen – wie im übrigen Deutschland – Stimmengewinne verzeichnen konnten. Separatistische Bestrebungen, die auf eine Loslösung Rheinhessens abzielten, Debatten um den Schutz der jungen Republik und unterschiedliche Demokratiekonzepte spiegelten die aufgeheizte Stimmung im Land wider.21
Im dritten Landtag (1924–1927) setzte sich fort, was sich bereits in den Jahren zuvor angekündigt hatte; die unbewältigte Finanzkrise stand im Mittelpunkt der Debatten und Maßnahmen. Einsparungen und Ausgaben beschäftigten die Abgeordneten und wurden nicht nur innerhalb des Parlaments von ausufernden Debatten begleitet. In der Bevölkerung wuchs der Unmut, der sich u. a. in einem Volksentscheid zur vorläufigen Auflösung des Parlaments – der nur knapp scheiterte – zeigte.22
Die vierte Landtagsperiode von 1927 bis 1931 stand im Zeichen der sich zuspitzenden Weltwirtschaftskrise und zunehmend polemisch geführten (Grundsatz-)Debatten. Letztere beeinflussten die Arbeit der Parlamentarier in erheblichem Umfang und machten vor keinem der verhandelten Themen halt. Haushalts- und Stabilisierungspläne wurden ebenso wie Arbeitsbeschaffungs- und Kulturprogramme von harter Kritik begleitet.23
Bei der hessischen Landtagswahl im November 1931 wurde die NSDAP mit 35,8% der Stimmen erstmals stärkste Partei im Volksstaat Hessen. Zentrum und SPD konnten zusammen 40,5% der Wähler für sich gewinnen.24 Die Stimmenverteilung wirkte sich auf die Arbeit des fünften und sechsten Landtags aus und bewirkte seine weitgehende Lahmlegung. Blockadehaltungen, Misstrauens- und Abberufungsanträge und zunehmend gewalttätige Auseinandersetzungen – auch zwischen den Parlamentariern – machten die Plenarsitzungen zu Schauveranstaltungen.25
1932 wurde der Landtag vorzeitig aufgelöst, doch auch der nächste konnte kaum Entscheidungen treffen; lediglich zwei Gesetze wurden von Ende 1931 bis Frühjahr 1933 erlassen, darunter – durchaus als symbolträchtig zu bezeichnen – die Abschaffung des Verfassungstags.26 Die Regierung des Volksstaats arbeitete nun lediglich auf Grundlage von Verordnungen, ohne die Mitwirkung und Kontrolle des Landtags.27 Das Ende der parlamentarischen Demokratie im Volksstaat Hessen kündigte sich an.
Nationalsozialistische Machtübernahme und Auflösung des Landtags
Die Auswirkungen der Ernennung Adolf Hitlers zum Reichskanzler und der Machtübernahme der Nationalsozialisten erreichten den Volksstaat Hessen zunächst nur langsam. Forderungen der NSDAP nach sofortiger Auflösung des Landtags wurden – wenngleich mit unterschiedlichen Argumenten – vorerst einstimmig zurückgewiesen.28 Bei den Reichstagswahlen im März 1933 erhielt die NSDAP schließlich mit 47,4% der Stimmen im Volksstaat Hessen noch mehr Stimmen als im Reichsdurchschnitt (43,9%).29
Die Landtagssitzung am 13. März 1933 stand bereits ganz im Zeichen nationalsozialistischer Repression. Ein Teil der Abgeordneten von SPD und KPD befand sich in „Schutzhaft“,30 als die NSDAP und die Zentrumspartei gemeinsam Ferdinand Werner, NSDAP-Mitglied seit 1930,31 zum neuen Staatspräsidenten wählten.
Das „Vorläufige Gesetz zur Gleichschaltung der Länder mit dem Reich“ vom 31. März 1933 sah offiziell die Umbildung der Landtage vor; gleichzeitig wurden regimekritische Minister und oppositionelle Abgeordnete aus ihren Posten enthoben oder an ihrer Amtsausführung gehindert. Eine Zentralisierung staatlicher Maßnahmen setzte ein.32 Formell bestand der Landtag des Volksstaats Hessen noch bis zum 30. Januar 1934 weiter, dann wurde er durch das „Gesetz über den Neuaufbau des Reichs“ aufgelöst.33
Mit der Machtübernahme der Nationalsozialisten endete die Phase parlamentarischer Demokratie im Volksstaat Hessen, wie überall im Deutschen Reich. Auf den bereits erwähnten Ausschluss von politischen Gegnern aus parlamentarischen Institutionen und die schrittweise Etablierung eines auf dem „Führerprinzip“ beruhenden Systems, das von Willkür und Terror geprägt war, folgte die Verfolgung und Ermordung von Millionen Menschen. Unter ihnen befanden sich auch Mitglieder des Landtags des Volksstaats Hessen, zum Beispiel:34 Wilhelm Beuttel, KPD-Abgeordneter im letzten frei gewählten hessischen Landtag, wurde auf Grund seiner Betätigung im Widerstand hingerichtet, ebenso Innenminister Wilhelm Leuschner, der auf Grund seiner Mitwirkungen in der Widerstandsbewegung des 20. Juli im Herbst 1944 in Plötzensee getötet wurde. Die Abgeordneten Heinrich Angermeier (KPD / KPO), Heinrich Delp und Otto Sturmfels (SPD) wurden im KZ Dachau ermordet.35
Tagungsort | Darmstadt |
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Laufzeit | 1919–1933 |
Anzahl der Abgeordneten | 70 |
Ein- oder Mehrkammersystem | Einkammersystem |
Wahlsystem | allgemeine, gleiche, geheime, direkte Wahlen; Verhältniswahlrecht |
- Vgl. Herbert, Ulrich: Geschichte Deutschlands im 20. Jahrhundert, München 2014, S. 177–223.
- Vgl. Schmidt, Felix: „Volksstaat“ statt „Großherzogtum“: Rheinhessen wird 1919 Teil des neuen republikanischen, hessischen Staates, URL: https://www.regionalgeschichte.net/bibliothek/aufsaetze/schmidt-f-volksstaat-hessen-grossherzogtum-rheinhessen.html (Stand: 12.5.2020).
- Vgl. Kroll, Frank-Lothar: Geschichte Hessens, München 2006, S. 75f.
- Vgl. Schmidt: Volksstaat.
- Vgl. Lengemann, Jochen: MdL Hessen 1808–1996. Biografischer Index, Marburg 1996, S. 25.
- Vgl. Schmidt: Volksstaat.
- Vgl. Kroll: Geschichte Hessens, S. 75.
- Vgl. Lengemann: MdL Hessen, S. 25.
- Vgl. Gonschior, Andreas: Der Volksstaat Hessen – Überblick, 2005, URL: https://www.gonschior.de/weimar/Hessen/index.htm (Stand: 12.5.2020).
- Vgl. Franz, Eckhart G. / Köhler, Manfred (Hrsg.): Parlament im Kampf um die Demokratie. Der Landtag des Volksstaats Hessen 1919–1933, Darmstadt 1991, S. 51.
- Vgl. ebd., S. 50f.
- Vgl. ebd., S. 51.
- Vgl. ebd., S. 55f.
- Vgl. Lengemann: MdL Hessen, S. 25.
- Vgl. Gonschior: Volksstaat Hessen.
- Vgl. Franz / Köhler: Parlament im Kampf, S. 35.
- Vgl. Rack, Klaus-Dieter / Vielsmeier, Bernd (Hrsg.): Hessische Abgeordnete 1820–1933. Biografische Nachweise für die Erste und Zweite Kammer der Landstände des Großherzogtums Hessen 1820–1918 und den Landtag des Volksstaates Hessen 1919–1933, Darmstadt 2008, S. 32.
- Vgl. Gonschior: Volksstaat Hessen. Eine Landtagsauflösung erfolgte – sieht man von der nationalsozialistischen Machtübernahme ab – einmal, nämlich im Jahr 1932 nach einer erfolgreichen Wahlanfechtung; vgl. hierzu Lengemann: MdL Hessen, S. 25.
- Vgl. Kroll: Geschichte Hessens, S. 77.
- Vgl. Franz / Köhler: Parlament im Kampf, S. 57f.
- Vgl. ebd., S. 58f.
- Vgl. ebd., S. 59f.
- Vgl. ebd., S. 60f.
- Vgl. Schmidt: Volksstaat.
- Vgl. Franz / Köhler: Parlament im Kampf, S. 62.
- Vgl. ebd., S. 63.
- Vgl. ebd.
- Vgl. ebd.
- Vgl. ebd., S. 64.
- Vgl. ebd.
- Zur Biografie von Werner vgl. Landesgeschichtliches Informationssystem Hessen / Hessische Biografie, Informationen zu Friedrich Werner (ID 2129), URL: https://www.lagis-hessen.de/pnd/130111112 (Stand: 12.5.2020).
- Vgl. Franz, Eckhart G.: Volksstaat Hessen 1918–1945, in: Heinemeyer, Walter (Hrsg.): Handbuch der hessischen Geschichte, Bd. 4: Hessen im Deutschen Bund und im neuen Deutschen Reich (1806) 1815 bis 1945, 2. Teilbd.: Die hessischen Staaten bis 1945 / 1. Lieferung, Marburg 1998, S. 885–935, hier: S. 918ff. und vgl. Franz / Köhler: Parlament im Kampf, S. 66.
- Vgl. Lengemann: MdL Hessen, S. 26.
- Die vorhandene Literatur zu Hessen im Nationalsozialismus ist umfangreich und erfährt eine stete Erweiterung. Ein, laufend aktualisierter, Überblick über die vorhandenen Publikationen findet sich im HeBis-Verbundkatalog über die Schlagwortsuche (für Hessen + Nationalsozialismus bspw.: http://cbsopac.rz.uni-frankfurt.de/DB=2.1/SET=2/TTL=3/CMD?ACT=SRCHM&ACT0=SRCH&IKT0=8531&TRM0=Hessen&ACT1=*&IKT1=8531&TRM1=Nationalsozialismus) oder die RVK-Notation NZ60630 (Politische Geschichte Hessens / 20. Und 21. Jahrhundert / NS-Zeit / Gesamtdarstellungen: http://cbsopac.rz.uni-frankfurt.de/DB=2.1/SET=1/TTL=4/CLK?IKT=6053&TRM=NZ+60630).
- Vgl. Franz / Köhler: Parlament im Kampf, S. 67.