Königreich Westphalen: Details
Von Dr. Katrin Wülfing
Verfassung für den „Modellstaat“
Nach der Niederlage im vierten Koalitionskrieg und auf Grund der im „Frieden von Tilsit“ gefassten Beschlüsse, musste Preußen größere Gebiete westlich der Elbe an Frankreich abtreten. Hier errichtete der französische Kaiser Napoleon I. am 18. August 1807 das Königreich Westphalen, dessen Regentschaft er seinem jüngeren Bruder Jérôme Bonaparte übertrug. Haupt- und Residenzstadt wurde Kassel.1 Neben kurhessischen, hannoveranischen und braunschweigischen, bildeten auch preußische Landesteile das Kernland des neuen Königreichs.2
Angelegt als Modellstaat und Vorbild für andere Staaten des Rheinbundes, erhielt das Königreich Westphalen am 15. November 1807 mit der „Constitution des Königreichs Westphalen“ die erste moderne Staatsverfassung Deutschlands. Die Einführung des Code Civil, der die Gleichheit der Bürger vor dem Gesetz festschrieb und zentrale Prinzipien der Französischen Revolution aufgriff, der Aufbau einer einheitlichen Staatsverwaltung unter Fachministern, die Etablierung einer unabhängigen Justiz und die Ausschaltung der Patrimonialgerichtsbarkeit bildeten die Grundlagen für eine moderne bürgerliche Gesellschaft und hatten zeitlich weit über den Musterstaat hinaus Bestand.3 Reformen im gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Bereich (bspw. Einführung der Gewerbefreiheit und Auflösung der Leibeigenschaft) begleiteten die in ihrer Zeit fortschrittlichen rechtlich-administrativen Entwicklungen.
Personelle Zusammensetzung und Organisation der Reichsstände
Grundlegende Veränderungen vollzogen sich auch im politischen Bereich: Mit Erlass der Verfassung wurde dem Monarchen erstmals ein unabhängiges Legislativorgan an die Seite gestellt, das über begrenzte Mitspracherechte verfügte und die Stellung des Königs als einzigem Repräsentanten der Nation aufhob.4 Diese sogenannten Reichsstände, ein auf Basis eines indirekten Zensuswahlrechts konstituiertem Parlament, setzten sich aus 100 Abgeordneten zusammen, die nach französischem Vorbild in den acht Departements gewählt wurden. Jedes Departement stellte, abhängig von seiner Größe, eine feste Zahl von Abgeordneten. Diese wurden aus drei Klassen ausgewählt: aus Grundeigentümern, Kaufleuten und Fabrikanten sowie Gelehrten, Künstlern und anderen besonders verdienten Bürgern.5 Zur Wahl stellen konnte sich, wer über Grundbesitz verfügte, mindestens 30 Jahre alt und männlich war. Insgesamt 70 Grundeigentümer, 15 Kaufleute und Fabrikanten und 15 Gelehrte, Künstler und sonstige verdiente Bürger traten in den Reichsständen des Königreichs Westphalen zusammen.6 Sie repräsentierten ausschließlich die sozialen Eliten des Königreichs: adelige und bürgerliche Landbesitzer, Kaufleute und Unternehmer, Beamte, Richter und Bildungsbürger.7 Die Abgeordneten der Reichsstände, dies war ein Novum, übten ein freies Mandat aus und waren weder an die Interessen ihres Wahlkreises oder Berufsstandes gebunden und ausschließlich dem Gemeinwohl verpflichtet.8 Ihre Wahl vollzog sich durch indirektes Votum der Departements-Wahlkollegien, die zwischen 80 und 300 Mitglieder umfassten und die wiederum direkt durch den König ausgesucht wurden. Sie wählten aus ihrer Mitte die Abgeordneten der Reichsstände und waren dabei nicht an Weisungen des Monarchen gebunden.9
Aufgaben, Kompetenzen und Arbeit der Reichsstände
Der durchaus fortschrittliche Gedanke, gewählten Bürgern ein Mitspracherecht bei der Einbringung und Verabschiedung von Gesetzen zu geben, wurde durch verschiedene Regelungen in seiner Umsetzung beschränkt. So konnten die Reichsstände nicht auf eigene Initiative zusammentreten und wurden stattdessen vom König einberufen. Auch ihre Teilhaberechte waren entsprechend zeittypischer Erwägungen begrenzt: Die Abgeordneten durften weder selbst Gesetze vorschlagen noch die Verhandlungspunkte der einzelnen Sitzungen bestimmen.10 Ihre Hauptaufgabe bestand in der Beratung von – durch die Regierung entwickelten – Gesetzesentwürfen.
Dies geschah in drei Fachkommissionen, deren insgesamt 15 Mitglieder durch die Abgeordneten gewählt wurden. Bevor über Gesetze im Plenum abgestimmt werden konnte, fand in den jeweils zuständigen Kommissionen für Finanzen, Zivilrecht oder Strafrecht die eigentliche Beratung und Bearbeitung der Gesetze statt. Letztere wurden den Kommissionsmitgliedern zur Lektüre und Diskussion vorgelegt, anschließend traten der zuständige Staatsrat als Regierungsvertreter und die Kommission zusammen. Unter Ausschluss der Öffentlichkeit wurde über die Gesetzentwürfe debattiert, vielfach wurden auf Wunsch der Kommissionsmitglieder die Entwürfe modifiziert.11 Zuletzt wurden die Vorlagen in die Reichsstände gegeben, die nun, und darin liegt ein wesentlicher Unterschied zum heutigen deutschen Landesparlamentarismus, ohne Beratung und Debatte über Zustimmung und Ablehnung der Gesetze entschieden. Stimmten sie für ein Gesetz, wurde dieses offiziell und in feierlicher Zeremonie durch den König verkündet. Bei Ablehnung war es dem König nicht möglich, ein formelles Gesetz zu erlassen. Er hatte dann jedoch die Möglichkeit – darin ist eine Beschränkung der Kompetenzen der Reichsstände zu sehen – via Dekret und vorläufigen Regelungen zu regieren. Tatsächlich geschah dies in der von Krisen geprägten Endphase des Königreichs Westphalen, als die Reichsstände letztlich gar nicht mehr einberufen wurden.12
Die Beratungen zwischen Regierung und Kommissionsmitgliedern gestalteten sich in Fragen des Zivil- und Strafrechts in der Regel harmonisch. Beide Seiten waren hier bestrebt, aufeinander zuzugehen und kompromissorientiert zu arbeiten. Insgesamt 19 Gesetze wurden im Königreich Westphalen auf diese Weise von den Reichsständen beschlossen und durch den König in Kraft gesetzt.13 Im Bereich der Finanzverwaltung war die Verhandlungsgrundlage schwieriger und die Situation komplexer; hier trafen verschiedene Haltungen und Interessen aufeinander, die Annäherungen bisweilen unmöglich machten. So verwundert es nicht, dass in beiden Fällen, in denen Gesetze abgelehnt wurden, diese den Staatshaushalt betrafen.14
Die Reichsstände traten während des Bestehens des Königreichs Westphalen nur zwei Mal zusammen: 1808 und 1810. Die Sessionen dauerten dann jeweils mehrere Wochen, während der die Abgeordneten in den Tagungsorten wohnten. In dieser Zeit trafen sie sich im informellen Rahmen und bei verschiedenen gesellschaftlichen Anlässen, oftmals auch in den Wohnungen der Parlamentspräsidenten, um zu beraten und zu debattieren. Da im Parlament selbst Diskussionen verboten waren und bei inoffiziellen Zusammenkünften kein Protokoll geführt wurde, kam diesen informellen Zusammentreffen eine nicht zu unterschätzende Bedeutung bei der Meinungsfindung der Abgeordneten in politischen Fragen zu.15 Jenseits des offiziellen parlamentarischen Wirkens erfüllten auch feierliche Loyalitätsbekundungen – etwa in Form offizieller Zeremonien bei der Eröffnung der Reichsstände, das Leisten eines Treueeids seitens der Deputierten etc. – sowie zahlreiche Empfänge beim König, aufwändige Bälle und Aufführungen, die begleitend zu den Sessionen stattfanden, wesentliche Funktionen. Sie dienten nicht nur der Inszenierung königlicher Herrschaft, sondern auch der Integration verschiedener sozialer Eliten aus den Vorgängerstaaten in die geplante neue Reichselite.16
Nach 1810 wurden die Reichsstände nicht mehr einberufen. Die Gründe hierfür sind nicht eindeutig rekonstruierbar; ob die Regierung befürchtete, die Reichsstände könnten geplante Steuererhöhungen ablehnen oder ob die ausbleibende Einberufung ein Ausdruck des stetig nachlassenden fortschrittlichen Charakters des „Modellstaats“ war, bleibt unklar.17 Fest steht, dass die Reformen, die die Gründung des Königreichs Westphalen begleiteten, zunehmend verblassten. Restaurative Tendenzen und zunehmend autokratische Strukturen, verbunden mit einer umfassenden sozioökonomischen Krise, steigerten die Skepsis der Bevölkerung gegenüber der Regierung.18 Mit der 1813 verlorenen „Völkerschlacht“ bei Leipzig und den auf dem Wiener Kongress beschlossenen territorialen Neuordnungen endete nicht nur das Bestehen des Königreichs Westphalen, sondern auch das der Reichsstände.
Rezeption
Bis heute ist die Bedeutung der Reichsstände umstritten. Während die Verfassung lange Zeit als „Gaukelstück“ oder „Täuschungsmanöver“ bezeichnet wurde und die Reichsstände als „unechtes“ Parlament tituliert wurden, betonen neuere Forschungen ihren wegweisenden Charakter für den heutigen Landesparlamentarismus. Ungeachtet der – aus heutiger Sicht – Defizite in der parlamentarischen Praxis sehen sie in den politischen Entwicklungen des Königreichs Westphalen die Grundlagen für die Entwicklung modernen verfassungspolitischen Denkens und das Vorbild für spätere deutsche Länderparlamente.19
Tagungsort | Kassel |
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Laufzeit | 1808 bis 1813, insgesamt tagten die Reichsstände in dieser Zeit zwei Mal: 1808 und 1810 |
Anzahl der Abgeordneten | 100 |
Ein- oder Mehrkammersystem | Einkammersystem |
Wahlsystem | indirektes Zensuswahlrecht |
- Vgl. Boehnke, Heiner / Sarkowicz, Hans: Geschichte Hessens. Von den Neandertalern bis zur schwarz-grünen Koalition, Wiesbaden 2017, S. 152ff. und Kroll, Frank-Lothar: Geschichte Hessens, München 2006, S. 44f.
- Vgl. Owzar, Armin: 12. August 1807. Die Gründung des Königreichs Westphalen, URL: https://www.lwl.org/westfaelische-geschichte/portal/Internet/input_felder/langDatensatz_ebene4.php?urlID=607&url_tabelle=tab_websegmente (Stand: 7.11.2019).
- Vgl. Lengemann, Jochen: Parlamente in Hessen. Biografisches Handbuch der Reichsstände des Königreichs Westphalen und der Ständeversammlung des Großherzogtums Frankfurt, Frankfurt am Main 1991, S. 16f.
- Vgl. Lengemann, Jochen: MdL Hessen 1808-1996. Biografischer Index, Marburg 1996, S. 13.
- Vgl. Owzar: Gründung des Königreichs Westphalen, o. S. und Lengemann: MdL Hessen, S. 13.
- Vgl. Lengemann: Parlamente in Hessen, S. 18f.
- Vgl. Brakensiek, Stefan: Die Reichsstände des Königreichs Westphalen, in: Westfälische Forschungen. Zeitschrift des Westfälischen Instituts für Regionalgeschichte des Landschaftsverbandes Westfalen-Lippe, 53 (2003), S. 215-240, hier: S. 221.
- Vgl. ebd.
- Vgl. Lengemann: MdL Hessen, S. 13.
- Vgl. Lengemann: Parlamente in Hessen, S. 21.
- Vgl. Brakensiek: Reichsstände, S. 231ff.
- Vgl. Lengemann: Parlamente in Hessen, S. 29ff.
- Vgl. Lengemann: MdL Hessen, S. 14.
- Vgl. Brakensiek: Reichsstände, S. 232 und Lengemann: MdL Hessen, S. 14.
- Vgl. Brakensiek: Reichsstände, S. 231.
- Vgl. ebd., S. 238.
- Vgl. Lengemann: Parlamente in Hessen, S. 31.
- Vgl. Owzar: Gründung des Königreichs Westphalen, o. S.
- Vgl. Lengemann: Parlamente in Hessen, S. 32f. sowie Brakensiek: Reichsstände, S. 238ff.