Königreich Preußen, Provinz Hessen-Nassau: Details
Von Dr. Katrin Wülfing
Kommunallandtage in Kassel und Wiesbaden
Nach dem Krieg Preußens gegen Österreich, aus dem Preußen als Sieger hervorging, wurde in den annektierten Gebieten – wie in den übrigen Städten, Gemeinden und Provinzen des Königreichs – eine Ständevertretung eingeführt.1 Betroffen hiervon waren das Herzogtum Nassau, das Kurfürstentum Hessen, die Freie Stadt Frankfurt, Landesteile des Großherzogtums Hessen sowie homburgische und bayerische Gebiete.2 Durch Verordnung König Wilhelms I. vom 22. Februar 1867 wurden aus diesen neuen preußischen Gebieten zunächst die Regierungsbezirke Wiesbaden und Kassel gebildet, die Ende 1868 zur Provinz Hessen-Nassau vereinigt wurden.3 Wiesbaden und Kassel erhielten, obwohl es üblicherweise pro Provinz nur ein Selbstverwaltungsorgan gab, auf Grund der ungünstigen geografischen Situation4 jeweils eigene kommunalständische Verbände, die die Rechte einer Korporation hatten.5
Ihre Vertretung, die Kommunalstände, verfügten über die Rechte und Pflichten, die die Provinziallandtage der älteren preußischen Provinzen hatten. Ihr Wirkungskreis erstreckte sich primär auf das Armen- und Fürsorgewesen, den Straßen- und Wegebau, die Förderung der Landwirtschaft, die Denkmalpflege und Versorgung der Kommunalbeamten. Später kam die Verwaltung von Einrichtungen – bspw. der Brandversicherungsanstalten und Bibliotheken – zum Aufgabenkatalog hinzu.6
Im Hinblick auf die Zusammensetzung der Kommunalstände muss zwischen Kassel und Wiesbaden unterschieden werden:
In Kassel versammelte sich der Kommunallandtag erstmals am 25. Oktober 1868. Er umfasste 64 Mitglieder und knüpfte mit seiner Zusammensetzung bewusst an die – in dieser Form seit 1863 bestehende – Ständevertretung im Kurfürstentum Hessen an. Eine Besonderheit bestand darin, dass ein Vertreter des Domänenfiskus zusätzlich einen Sitz und das damit verbundene Stimmrecht erhielt.7
In Wiesbaden gehörten dem Kommunallandtag vier Standesherren – der Besitzer der Standesherrschaft Schaumburg-Holzappel, der Fürst zu Wied (wegen der Standesherrschaft Runkel), der Graf zu Leiningen-Westerburg (wegen der Standesherrschaft Westerburg) und der Graf zu Solms-Rödelheim (wegen der Standesherrschaft Rödelheim) – sowie zwei gewählte Vertreter der Großgrundbesitzer und je zwei Abgeordnete der elf Kreise des Regierungsbezirks an.8 Mit seinen 28 Mitgliedern war der Kommunallandtag in Wiesbaden damit deutlich kleiner als in Kassel.
Einführung der Provinziallandtage
Als 1875 in Preußen eine für alle Provinzen gültige Provinzialordnung in Kraft trat, blieb die Provinz Hessen-Nassau davon zunächst ausgenommen. Erst im Rahmen der Reform der preußischen Provinzialverwaltung und mit Inkrafttreten der „Provinzialordnung für die Provinz Hessen-Naussau“ am 8. Juni 1885 traten Veränderungen ein, die sich auch auf die kommunale Selbstverwaltung in Hessen-Nassau auswirkten: Kannte die Provinz bisher nur die Vertretung auf kommunaler Ebene und durch den preußischen Landtag, kam mit der Einführung von Provinziallandtagen nun ein weiteres Organ der Volksvertretung, angesiedelt zwischen den beiden bekannten Landtagen, hinzu. Gleichzeitig wurden die Kommunalständischen Verbände durch Bezirksverbände ersetzt und auf Ebene der Provinz ein neuer Verband, der Provinzialverband, gegründet. Die Stadt Frankfurt wurde in den Verband des Regierungsbezirks Wiesbaden und in den Provinzialverband eingegliedert.9
Eine veränderte Aufgabenteilung begleitete die Neuorganisation der Vertretungsorgane: Den Bezirksverbänden wurden die Aufgaben der Kommunalständischen Verbände übertragen, die sie damit gänzlich ersetzten.10 Der neue Provinzialverband war für die Verwaltung der Landwirtschaftlichen Berufsgenossenschaft und Landesversicherungsanstalt zuständig. Seine Vertretung, der Provinziallandtag, spielte eine Rolle im preußischen Gesetzgebungsverfahren. In Angelegenheiten und Gesetzesentwürfen, die die Provinz betrafen, wurde er als Gutachter hinzugezogen.11 Die sich aus diesen unterschiedlichen Zuständigkeiten und Interessen ergebenden Streitigkeiten zwischen den einzelnen politischen Instanzen waren umfangreich und erstreckten sich über verschiedenste politische, juristische und organisatorische Fragen.12
Die neue Provinzialordnung brachte Veränderungen für die Zusammensetzung der Kommunallandtage mit sich. Gewählt wurde in den Land- und Stadtkreisen, die auf Grund der Verwaltungsreform erweitert worden waren. Je nach Anzahl der Wahlberechtigten in den einzelnen Kreisen wurde entweder einer oder mehrere Abgeordnete durch die zuständigen Gremien für sechs Jahre gewählt.13 Dadurch wuchsen auch die Kommunallandtage; in Kassel bestand dieser bei der ersten, nach den neuen Bestimmungen durchgeführten, Tagung aus 55 Mitgliedern, in Wiesbaden nun aus 50 Abgeordneten.14
Gemeinsam bildeten die Mitglieder des Wiesbadener und Kasseler Kommunallandtags den Provinziallandtag. Dieser trat in der Regel in Kassel, zwei Mal auch in Wiesbaden, zusammen.15
Wenngleich die Vertretung der adeligen Standesherrschaften gemäß der neuen Provinzialordnung entfiel, waren die Wahlen nicht von einer Gleichberechtigung aller Bürger geprägt. Das in Preußen übliche Dreiklassenwahlrecht galt auch für die Provinz Hessen-Nassau, darüber hinaus war der Kreis der zur Wahl zugelassenen Bürger begrenzt. Erst 1918 änderte sich dies, als auf Kreisebene ein allgemeines, freies Verhältniswahlrecht eingeführt wurde.16
Tagungsorte | Kommunallandtage: Kassel und Wiesbaden; Provinziallandtag: primär Kassel, zwei Mal auch Wiesbaden |
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Laufzeit | 1867-1918 |
Anzahl der Abgeordneten | wechselnd, abhängig von der Bevölkerungszahl |
Ein- oder Mehrkammersystem | eine Kammer pro Regierungsbezirk und Ebene: Kommunallandtag, Provinziallandtag, Preußischer Landtag |
Wahlsystem | ständisches Repräsentativsystem, Zensuswahlrecht; ab 1885 preußisches Dreiklassenwahlrecht |
- Vgl. Burkardt, Barbara / Pult, Manfred (Bearb.): Nassauische Parlamentarier. Ein biographisches Handbuch, Teil 2: Der Kommunallandtag des Regierungsbezirks Wiesbaden 1868-1933, Wiesbaden 2003, S. VII.
- Vgl. Hubatsch, Walther: Grundriß zur deutschen Verwaltungsgeschichte 1815-1945, Reihe A: Preußen, Bd. 11: Hessen-Nassau (einschl. Vorgänger-Staaten), Marburg 1979, S. 285.
- Vgl. Burkardt / Pult: Nassauische Parlamentarier, S. VII.
- Beide Städte waren nur über eine schmale Landbrücke miteinander verbunden; vgl. ebd., S. VII.
- Vgl. Lengemann: MdL Hessen, S. 34.
- Vgl. ebd.
- Vgl. ebd.
- Vgl. Burkardt / Pult: Nassauische Parlamentarier, S. VII.
- Vgl. Lengemann: MdL Hessen, S. 35 und ebd., S. VIII.
- Eine detaillierte Beschreibung der sich – stetig erweiternden – Aufgaben des Bezirksverbands Wiesbaden findet sich in: Burkhardt / Pult: Nassauische Parlamentarier, S. VIIIf.
- Vgl. Lengemann: MdL Hessen, S. 35.
- Vgl. Klein, Thomas: Preussische Provinz Hessen Nassau 1866-1944/45, in: Heinemeyer, Walter (Hrsg.): Handbuch der hessischen Geschichte, Bd. 4: Hessen im Deutschen Bund und im neuen Deutschen Reich (1806) 1815 bis 1945, 2. Teilbd.:Die hessischen Staaten bis 1945 / 1. Lieferung, Marburg 1998, S. 15-419, hier bspw.: S. 248-254.
- Vgl. Burkardt / Pult: Nassauische Parlamentarier, S. VIII.
- Vgl. Lengemann: MdL Hessen, S. 35. Die Zahl der Abgeordneten scheint sich verändert zu haben. Burkardt und Pult gehen von rund 70 Mitgliedern des Wiesbadener Kommunallandtags aus; vgl. Burkardt / Pult: Nassauische Parlamentarier, S. VIII.
- Vgl. Lengemann: MdL Hessen, S. 35.
- Vgl. Burkardt / Pult: Nassauische Parlamentarier, S. VIII.